Skip to main content

Massenverfahren eine Gefahr für den Rechtsstaat?

Dieselskandal, Fluggastrechte, Anlegerschutz im Kapitalmarkt … Schon Ende 2021 haben die vorsitzenden Richter des LG Augsburg in einem Brandbrief die Herausforderungen von Massenverfahren für die Justiz angeprangert. Sie sprechen darin von massivem Personalmangel, drohendem Burnout, dem Verlust von richterlicher Sorgfalt und der Gefährdung unseres Rechtsstaates. Mittlerweile ist das Problem noch viel größer geworden, gerade durch den Vormarsch von Legal Tech. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es angesichts der Flut gegenwärtiger und zukünftiger Massenverfahren und welche Rolle spielt Legal Tech als Problemlösung dabei?

I. Was sind Massenverfahren?

Im Rahmen von Massenverfahren machen Massen von Klägern ähnliche oder vergleichbare Forderungen gegen einen Schuldner geltend. Neben der Geltendmachung von Fluggastrechten (manchmal sogar durch ein paar Klicke per App) haben diese Verfahren ihren bisherigen Höhepunkt in den Klagen gegen Automobilhersteller im Rahmen der Dieselabgasaffäre gefunden. Massenverfahren zeichnet ein hoher Grad von Repetition und Standardisierung aus. Besonders die große Anzahl von Geschädigten mit vergleichbaren oder identischen Ansprüchen ist typisch für diese Konstellation und begründet damit die besonderen Belastungen, denen die am Verfahren Beteiligten ausgesetzt sind.

II. Welches Problem haben die Richter?

In ihrem Hilferuf aus Augsburg beklagen die Richter, dass Dieselklagen und Widerrufsfälle mittlerweile einen Großteil der Arbeit der Zivilkammern einnehmen würden. Besonders problematisch ist die in ihrer Situation kaum zu bewältigende Menge an parallellaufenden Verfahren. Sie schreiben hier:

„Um die schiere zusätzliche und umfangreiche Masse zu bewältigen, müssen wir einen Großteil dessen über Bord werfen, was wir gelernt und verinnerlicht haben: Einen Fall in all seinen Details zu erfassen, mit den Parteien auf Augenhöhe und am Punkt zu verhandeln, um eine tragfähige Lösung zu erarbeiten und ggf. ein fundiertes und gut begründetes Urteil zu fertigen. Würden wir daran festhalten, würde die Ziviljustiz in kürzester Zeit kollabieren. (…) Wir können dieses Tempo und diese Masse nicht in einer Art Ultra-Lauf durchhalten und unsere Arbeitszeit immer weiter entgrenzen. Permanente Überstunden und 7-Tage-Wochen sind für viele Kolleginnen und Kollegen schon jetzt an der Tagesordnung. Verschnaufpausen gibt es keine, die Verfahren laufen durchweg auf; auch in den Sommermonaten ist kein kurzfristiger Rückgang bei den Eingängen zu verzeichnen; Urlaub ist lediglich verschobene Arbeitszeit, an dessen Ende Aktenberge die Erholung im Handumdrehen zunichte machen.“

Vorsitzende Richter LG Augsburg, Ende 2021

Die Folge dieser Überlastung ist aus ihrer Sicht klar: sollte sich die Situation nicht verbessern, sei der Rechtsstaat in Gefahr. Sie ziehen das Fazit, dass die massenhafte Geltendmachung von Forderungen eine Klageindustrie geschaffen habe, die nicht mehr der Rechtsdurchsetzung, sondern der Kostengenerierung diene.

III. Welches Problem haben die Anwälte?

Auch die Anwaltschaft sieht sich durch Massenverfahren neuen Herausforderungen ausgesetzt. Werden die Kläger vertreten, müssen eine Vielzahl von Schriftsätzen formuliert, Beratungen organisiert und Gerichtstermine wahrgenommen werden. Meist geht es auch um kleine Streitwerte, sodass sich tatsächlich erst in der Masse ein lukratives Geschäft ergibt. Auf der Beklagtenseite müssen zunächst ebendiese Schriftsätze bewältigt werden. Erreichen die Rechtsabteilung eines Beklagten mehrere hundert Schriftsätze am Tag (wie es im Rahmen der Dieselaffäre vorkam), lassen sich diese nicht mehr in traditionellen Abläufen bearbeiten. Entweder wird dann schluderig gearbeitet, oder aber es müssen Externe hinzugezogen werden, die viel Geld für wieder wenig Streitwert kosten.

IV. Lösungsmöglichkeiten für Anwaltschaft

Während die Probleme der Justiz nicht zuletzt durch die Schwerfälligkeit staatlicher Einrichtungen kaum oder nur sehr langsam gelöst werden können, kommen der Anwaltschaft die Vorzüge der freien Wirtschaft zugute. Die erste denkbare Stellschraube ist der Einsatz von mehr Personal. Hier können zunächst kurzfristig studentische Hilfskräfte, Werkstudenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und junge Anwälte eingestellt werden, um den hohen Arbeitsaufwand zu bewältigen. Dennoch benötigt die Bearbeitung dieser Verfahren und das Mandantenmanagement einen hohen Grad an Spezialisierung und eingespielten Abläufen. Damit dieser Fokus erreicht wird, haben einige mit diesen Verfahren betrauten Kanzleien ihre Standorte um designierte Massenverfahren Abteilungen erweitert. Beispielsweise haben Deloitte Legal und Frommer Legal gemeinsam die Kanzlei Class Reaction zur Abwehr von Massenklagen gegründet, oder Fieldfisher, Noerr und Freshfields eigene Praxisgruppen für Massenverfahren gegründet.

Aufgrund der Repetition und Standardisierungsmöglichkeit großer Verfahren mit vielen Klägern, ist der Einsatz von Technologie ein weiteres Standbein von Großkanzleien und Rechtsabteilungen in Massenverfahren. So können Schriftsätze automatisiert erfasst oder geschrieben, Dokumente nach Stichworten analysiert und auch der Erstkontakt mit Mandanten mittels Chatbots oder Eingabeformularen abgewickelt werden. Hier haben einige Großkanzleien schnell reagiert und eigene Tech Teams bestehend aus Legal Engineers innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft. So zum Beispiel die Großkanzlei Freshfields, mit ihrem Entwicklungsstudio Freshfields Lab. Neben eigenen Softwarelösungen haben auch externe Softwareanbieter ihre Kanzleisoftware um die automatisierte Erstellung von Schriftsätzen erweitert. Wie diese Erweiterung funktioniert, kann beispielsweise bei einem Demotermin mit Legalvisio getestet werden. 

Automatisierungen funktionieren mit Legalvisio auch im kleineren Rahmen und immer dort, wo Repetition Standardisierungspotentiale bietet. Werden beispielsweise öfter vergleichbare Mandate mit ähnlichem Sachverhalt bearbeitet, kann Legalvisio automatisiert Schriftsätze erstellen. 

Techpresso Newsletter

  • In unserem Techpresso-Newsletter ordnen wir aktuelle Entwicklungen aus der Legal-Tech Welt kurz für Sie ein.
  • 14-tägige Updates – Kein Spam, nur das Wesentliche!

Jetzt abonnieren

V. Die Rolle von Legal Tech

Abseits von Großkanzleien, Kanzleisoftware und Legal Tech Labs haben sich auch Anbieter aus der Wirtschaft – Legal Tech Plattformen – auf die Geltendmachung von standardisierbaren Forderungen spezialisiert. Sie können ohne großen Personalaufwand und verhältnismäßig geringe Kosten Forderungen von Verbrauchern einfordern. Hier haben sich verschiedene Abwicklungsmodelle etabliert: 

  • Factoring: Hier kaufen Anbieter die Forderung dem Verbraucher direkt ab und machen sie in eigenem Namen geltend. Der besondere Vorteil: die Auszahlung an den Verbraucher erfolgt sofort. Er trägt somit kein Risiko.
  • Inkassolösung: Anbieter wie wenigermiete.de ziehen mit einer Inkassolizenz geprüfte Forderungen von Verbrauchern ein. Seit dem wegweisenden Urteil des BGH zur Legalität dieses Modells ist höchstrichterlich festgestellt, dass Legal-Tech-Anbieter unter dieser Lizenz auch rechtsberatend tätig werden dürfen.
  • Weitere Modelle sind die reine Anwaltsvermittlung oder auch rein digitale Kanzleien.

Vorteil des Vordringens von Legal Tech Anbietern auf diesen Markt ist die Erleichterung des Zugangs zu Recht für Verbraucher. Ist die Geltendmachung einer Forderung nur wenige Klicks entfernt und ohne eigene Prozesskostenrisiken mit geringem Arbeitsaufwand erreichbar, sinkt das Hemmnis die eigenen Rechte durchzusetzen. Diese wünschenswerte Entwicklung für die Verbraucher wird jedoch zugleich zum Verhängnis für Gerichte und führt durch die Mehrbelastung zu den beklagten Problemen.

VI. Lösungen für die Richterschaft

Kernproblem der Justiz ist die zeitliche und personelle Überforderung mit der Menge an Klagen im Rahmen von Massenverfahren. Können Kanzleien ohne weiteres mehr Personal einstellen, um die Mehrbelastung zu bewältigen, fehlt es der Justiz einerseits an den erforderlichen Mitteln, der Reaktionsfähigkeit der freien Wirtschaft und möglicherweise auch am politischen Willen, die Situation zu verbessern. Nicht zuletzt das Grundrecht auf einen gesetzlichen Richter als maßgeblichen Pfeiler unseres Rechtsstaates schränkt die Möglichkeiten des Staates ein, mehr und zugleich weniger qualifiziertes Personal einzustellen. 

Der Versuch des Gesetzgebers, mit der Musterfeststellungsklage gem. §§ 606 ff. die Probleme von Massenverfahren zu lösen, kann nur als bedingt erfolgreich bewertet werden. Das Ziel, dem schwächeren Verbraucher eine stärkere Stellung gegen große Konzerne zu verschaffen, konnte mit der Musterfeststellungsklage nicht erreicht werden. So vermittelt eine für den Verbraucher positive Entscheidung keinen unmittelbaren Anspruch, dieser muss noch separat eingeklagt werden, was mit einem erneuten Kostenrisiko und Arbeitsaufwand verbunden ist. Um „amerikanische Verhältnisse“ mit dem unerwünschten Drohpotenzial starker Verbrauchergruppen zu vermeiden, wurde sich bei der Schaffung der Musterfeststellungsklage unter anderem auf ebendiese Anspruchsvermittlung verzichtet. Eine Klageart, die dem US-amerikanischen class action lawsuit entspricht, existiert demnach in Deutschland nicht.

Daher hat der Deutsche Richterbund bereits am 13.05.22 Vorschläge zur besseren Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz veröffentlicht. Besondere Hoffnungen scheinen die Autoren der Ausarbeitung in die Schaffung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum BGH zu legen, bei dem relevante Rechtsfragen in Massenverfahren zügig höchstrichterlich entschieden werden. So sollen Massenverfahren beschleunigt und die Justiz entlastet werden.

Viele der anderen Vorschläge richten sich ebenfalls auf eine Beschleunigung des Verfahrens und billigen den Richtern zugleich mehr Kompetenzen zu. Beispielsweise sollen Verfahren ausschließlich schriftlich oder online geführt werden dürfen, ohne dass die Zustimmung der Parteien erforderlich wäre. Auch der Einsatz von Legal Tech und künstlicher Intelligenz könnte eine Stellschraube in der Entlastung der Justiz sein. Einige dieser Vorschläge sind mittlerweile Realität, etwa beim AG Frankfurt, oder werden es bald.

VII. Fazit

Der Status Quo bei der Bewältigung von Massenverfahren ist unbefriedigend, belastend und eine Gefahr für unseren funktionierenden Rechtsstaat. Der Anspruch sollte sein, der Richterschaft die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die nötig sind, um stets ausgewogene und fundierte Entscheidungen treffen zu können. Stattdessen ist der Gerichtssaal von Massenverfahren ein uneven playing field wo Kläger und Beklagte mit deutlich mehr Ressourcen, Geld und Personalstärke auf überforderte und ausgebrannte Richter treffen. Das muss sich ändern. Hier ist die Politik gefragt, schnell nachzubessern und Gerichte zu entlasten. Dies gilt umso mehr, als dass Masseverfahren nicht mit dem Dieselkomplex endeten, sondern uns auch in Zukunft in vielen denkbaren Konstellationen beschäftigen werden (siehe Folgen von Corona). Die Vorschläge des Deutschen Richterbundes sind hier ein erster Anfang, der diese nötigen Veränderungen hoffentlich anstoßen wird. Man darf gespannt sein, ob und wie diese Vorschläge umgesetzt werden.

Lesen Sie mehr in unserem Newsletter

Kostenlosen Demotermin buchen

Registrieren Sie sich und wir kontaktieren Sie, um einen Demotermin zu vereinbaren.